Geredet wird über Digitalisierung ja gerne und viel in Deutschland. Wir haben einen Minister für digitale Infrastruktur und eine parlamentarische Staatssekretärin für Digitalisierung. Wir haben tolle Beratungsgremien für die Regierung und die Abgeordneten reisen nach Skandinavien und ins Baltikum, um zu sehen, wie es gehen könnte. Kleiner Tipp am Rande: Auch in Marokko könnte man sich ansehen, wie es mit dem Funknetz funktioniert – und das ist im Winter doch ein attraktiveres Reiseziel. Aber dennoch ist unsere digitale Infrastruktur weiterhin beschämend schlecht und außer der elektronischen Steuererklärung funktioniert nicht so wirklich viel.
Das ist natürlich bei unseren Unternehmen viel besser, oder? Da haben wir auch jede Menge neue Officer für Digitalisierung, Data Analytics und IoT und zahlreiche Management-Committees, die in InnoLabs mit Design Thinking, Lego-Bausätzen in kreativen Umgebungen die neuen disruptiven Geschäftsmodelle erfinden, die immer mal wieder nach Silicon Valley – neuerdings auch gerne mal nach Israel oder Singapur – reisen. Aber kommt wirklich mehr dabei heraus als bei unseren Politikern?
Auch in Unternehmen wird gerne viel geredet, aber wenig entschieden und gemacht, besonders im Infrastrukturbereich. Wie wäre es sonst zu erklären, dass in sehr vielen Unternehmen immer noch Kernprozesse auf bröselnden Altsystemen in COBOL auf dem Mainframe laufen? Wobei die letzten wirklichen Systemkenner mittlerweile verstorben oder an Alzheimer erkrankt sind? Und wo immer noch Business Cases gerechnet werden, ob sich eine Ablösung der Altsysteme denn rechnet? Wenn diese Manager ein Mobilfunknetz managen, dann kann doch gar keine vollständige Abdeckung herauskommen, weil die nie den Business Case dafür fänden!
Unternehmen hätten, anders als demokratisch verfasste Gesellschaften, durchaus die Möglichkeit, von der Effizienz Chinas beim technologischen Wandel zu lernen. Aber in vielen Unternehmen ist die Migration eines Altsystems auf eine Standardsoftware genauso schwierig wie der Bau einer Autobahn oder einer Stromtrasse in Deutschland. Alle Fachbereiche und Tochtergesellschaften, der Betriebsrat, die Prozess-Owner und die Zentralbereiche wollen mitreden. Am Ende wird es dann besonders spannend, wenn die Fachbereiche der Tochtergesellschaften beweisen wollen, dass die Spezialisten aus der Konzernzentrale ihren Markt ja sowieso nicht verstehen. Es wird zwar vielleicht noch vollmundig vorgegeben durch den Vorstand, dass man sich ja an den Standard halten soll, aber dann delegiert man die Durchsetzung an den CIO. Und so benötigen auch Unternehmen oft sehr viel Zeit, um offenkundig notwendige Entscheidungen zu treffen und auch umzusetzen. Und es sind so manche Elbphilharmonien und Berliner Flughäfen in deutschen Unternehmen entstanden.
Noch schlimmer als dieser Drang zur endlosen Diskussion ist aber der verbreitete Drang zum Nachahmen von Verhaltens- und Vorgehensweisen der vermeintlichen Stars in der disruptiven, innovativen Digitalisierungswelt. Da haben wir dann hinterher alle die gleichen, ein wenig garagenartig aussehenden InnoLabs mit kreativer Möblierung und machen nun Design Thinking statt Brainstorming und Metaplan-Sessions. Und wir erliegen dem Trugschluss, dass wir ja nun alles richtig gemacht und auf den Weg gebracht haben.
Das erste Problem ist, dass der vermeintliche Star selbst nicht mehr so genau weiß, wie es denn passiert ist. Sie kennen das vielleicht bei Geschichten aus ihrer eigenen Kindheit. Man erzählt oft Geschichten aus den sehr jungen Jahren, von denen man eigentlich nicht mehr so genau weiß, ob man sie erinnert oder ob man es so oft von älteren Verwandten erzählt bekommen hat, dass man sie sich zum Schluss angeeignet hat. Die vielbesuchten erfolgreichen Gründer, über die schon viele Berichte geschrieben wurden, verbreiten oft auch nur mehr den über Jahre entwickelten Gründungsmythos. Oft wird dann in diesem Gründungsmythos irgendein Verhaltensmuster, etwa dass man damals in er Garage gesessen hat, hervorgehoben und als eine Ursache für den Erfolg identifiziert. Das ist noch nicht einmal die übliche Verwechslung von Korrelation und Ursache, denn die Korrelation kann man nicht mehr feststellen. Die vielen, vielen Start-Ups, die sich damals ähnlich verhalten haben, sind schon alle pleite und können nicht mehr in die Untersuchung eingehen. Es ist dabei wie in dem alten Statistiker-Witz: „Eine Umfrage unter hundert Lottomillionären hat ergeben, dass Lotto spielen die beste Kapitalanlage ist!“
Das zweite und ernsthaftere Problem ist, dass man beim Nachmachen nur einen äußeren Anschein nachahmt, aber die inneren Prinzipien nicht verstanden hat. Wenn man etwa einen abergläubischen Menschen beobachtet, der immer wieder ein Kreuzzeichen macht, bevor er in sein Auto steigt, dann wissen wir, dass wir nicht sein Auto klauen können, indem wir mit einem Kreuzzeichen auf das Auto zugehen. Man muss schon auch den Funkschlüssel in der Hosentasche haben! Und so funktionieren aber heute die meisten InnoLabs: Man ahmt eine formale äußere Hülle nach, die man meint, in Silicon Valley und anderswo beobachtet zu haben, wo digitale und disruptive Innovation entstanden ist. Dabei war es nie die Hülle, sondern der Inhalt – und das waren oft außergewöhnliche Menschen – der den Unterschied machte. Statt die Hülle zu kopieren, sollte man sich lieber sorgen, ob man denn solche außergewöhnlichen Menschen in der eigenen Organisation überhaupt anziehen und halten kann.
Wir suchen vergeblich immer noch nach dem Nürnberger Trichter. Dabei hat schon Euklid seinem König Ptolemaios I. auf die Frage nach einem einfachen Weg, Geometrie zu lernen, geantwortet, dass es keinen Königsweg gäbe. Oder wie Thomas Edison sagte: „Genius is 1 % inspiration and 99 % perspiration!“ Es lohnt sich nicht, unter dem Baum zu liegen und auf den Apfel zu warten, der einem zu der tollen Idee verhilft. Du musst mit den neuen Technologien arbeiten, Projekte machen, sie benutzen, denn ohne hartes Training wird das nichts. Und solange dir das tolle innovative und disruptive Thema nicht eingefallen ist, mach einfach deine Hausaufgaben. Rede nicht mehr länger rum, rechne nicht weiter Business Cases, die dir nicht weiterhelfen. Gründe keine weiteren Gremien und keine weiteren Funktionen, sondern schaffe die Infrastruktur, die überhaupt die Voraussetzung ist, an all dem Neuen teilhaben zu können. Schaffe endlich den Mainframe und COBOL ab, gehe in die Cloud, nutze Standardsoftware – und zwar so nahe am Standard wie möglich.
Im Grunde hört es sich einfach an, aber das Umschalten von Reden auf Machen ist keineswegs so einfach. Jeder weiß, was man tun muss, um nach einer Sportverletzung wieder auf die Beine zu kommen, aber es dann wirklich zu tun, ist viel härter. Die frühere Weltklasse-Bahnradfahrerin Kristina Vogt wurde bei einem Trainingsunfall querschnittsgelähmt. Sie hat sich auf beeindruckende Weise ins Leben zurückgekämpft. Sie hat gemacht und sagt über diese Zeit: „Machen ist wie wollen. Nur krasser!“
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Rainer Janßen | 20.01.2020