Innovation ist eine Neuerung, die in die wirtschaftliche Praxis umgesetzt wird. Das kann eine Verbesserung von Produktionsmethoden sein, neue Eigenschaften und verbesserte Funktionen eines bestehenden Produkts, ein wirklich neues Produkt, das bestehende Produkte ganz oder teilweise ersetzt, bis hin zu dem wirklich völlig Neuen, das ein ganz neues Geschäftsmodell entwickelt, das so noch gar nicht da gewesen ist.
Viele Unternehmen haben ihre Wurzeln in der einen großen Innovation, die ihre Gründer erfunden haben und die sie zur Gründung des Unternehmens geführt haben. Siemens, Krupp, Bosch, Linde, Mercedes, Borgwardt, Porsche, IBM, Microsoft, SAP, Google, Facebook, Neckermann, Grundig, Netscape, DEC, Nokia, Compaq, usw. Manche sind irgendwann wieder vom Markt verschwunden. Manche sind groß geworden, haben irgendwie überlebt, aber ihre Strahlkraft verloren und die eine oder andere Innovationswelle verpasst. Nur wenige haben sich noch mal wirklich neu erfunden.
Ich habe nach Studium und Promotion meine erste Stelle 1984 bei IBM im Wissenschaftlichen Zentrum Heidelberg bekommen. IBM war damals der globale Anführer der IT-Industrie. Sein Gewinn war etwa so groß, wie der Umsatz des zweitgrößten IT-Unternehmens. IBM verfügte über die besten Ressourcen im Hardware- und Software-Engineering. Darüber hinaus war IBM zu diesem Zeitpunkt in vielen Managementdisziplinen anderen Unternehmen weit voraus. So gab es jährliche weltweite Mitarbeiterbefragungen, in denen die Mitarbeiter Probleme mit direktem Management und der Geschäftsführung aufdecken konnten. Ein nachhaltiges Controlling sorgte dafür, dass die Ergebnisse in einem klaren Feedbackprozess abgearbeitet wurden. Ein Kernprogramm der IBM Personalpolitik war schon damals „equal treatment“, also die Gleichbehandlung der Mitarbeiter unabhängig von Geschlecht, Religion und Rasse. Gleichbehandlungsbeauftragte wachten darüber und die Personalabteilung kontrollierte regelmäßig, ob die Gehälter bei gleichem Stellenwert und gleicher Laufbahnzugehörigkeit auch gleich waren. Und ich habe sofort gelernt, dass man Projektaufwände nicht in MY (man year) misst, sondern in PY (person year)!
IBM war eine international durch alle Einheiten vermessene und durch KPIs gesteuerte globale Wirtschaftsmaschine. Im Vertrieb wurden beispielsweise alle Umsätze von Hardware, Software und Services in eine interne Währungseinheit umgerechnet und die hieß „Punkte“. In allem fragten die IBMer bei ihrem Handeln zunächst danach, wieviel Punkte das brachte. Dies zeigt eine Anekdote über den legendären Vertriebschef in Deutschland in dieser Zeit, Bernd Dorn. Dorn, so erzählte man sich, hatte seinem Fahrer gesagt, er solle immer bei Rot über die Ampel fahren, denn da gäbe es Punkte!
Die Forschungszentren der IBM haben danach viele Grundlagen zu den dann die IT-Industrie beherrschenden Technologien wie Abteilungsrechnern, UNIX Betriebssystem und RISC Rechnerarchitektur, Laptop, LAN, neue Softwarekonzepte etc. geliefert, aber IBM hat keine Produkte daraus gemacht. Für die Entwicklungseinheiten war es nach ihren Punkten immer produktiver, das nächste Feature für den Mainframe zu entwickeln, die nächste Großplatteneinheit etc. als die neuen PCs, Diskettenlaufwerke usw. Schließlich gab der CEO Gary Opel einem Manager Geld und befahl ihm, raus aus dem IBM Land im Hudson Valley zu gehen – er ging dann nach Boca Raton in Florida – und ihm einen PC zu bringen. Der Mann baute ihn mit Intel Prozessoren, Microsoft-Software und der am leichtesten kopierbaren Plastikkiste.
IBM schrammte Anfang der 90er knapp an der Pleite vorbei, schaffte unter Gerstner zwar das Überleben, wurde aber nie wieder der Technologieführer, der das Unternehmen einmal war. Wann immer man die Chance hatte, wieder in Führung zu gehen, hat man es wieder wegen der KPIs verpasst. So hatte man nach Trennung von Microsoft zunächst mit dem Betriebssystem OS/2 die Nase vorn. Windows95 kam erst erhebliche Zeit später. Aber statt OS/2 mit jedem neuen PC zu verschenken, damit Windows95 gar keinen Platz gehabt hätte, sich zu etablieren, hat man es als Cashcow betreiben wollen und die Chance versäumt. Und nach Übernahme von Lotus Notes hat man das gleiche Programm noch einmal durchlaufen.
Dies hat Christensens bahnbrechendes Buch „The Innovators Dilemma“ stimuliert. Das gleiche Muster von eigentlich innovativen Firmen, die ihre eigenen Produkte durchaus gekonnt weiterentwickeln, aber immer wieder den nächsten Trend verpassen, konnte man gerade in der IT-Branche in den letzten Jahrzehnten immer wieder erleben. Man sehe den Aufstieg und Fall von DEC und Nokia, man schaue sich an, wie Microsoft fast das Internet verpasst hätte und nur mit brachialer Ausnutzung der Marktstellung den Angriff von Netscape abwehrte und danach beim Mobile Computing nie wirklich Fuß fasste. Selbst neue Giganten wie Facebook und Google haben zwar noch einige gekauft, aber die wesentlichen neuen Themen wie Twitter, Instagram, WhatsApp und anderes kamen auch nicht von diesen angeblichen Innovationsmaschinen.
IBM hat dabei eigentlich – und das ist die wesentliche Einsicht von Christensens Analyse – nach allen Regeln der BWL nichts falsch gemacht. Man hat die besten Ressourcen für die wichtigsten Kunden eingesetzt, bei Entwicklungsprioritäten auf die Kunden gehört, das Unternehmen straff nach einheitlichen KPIs geführt. Aber wenn sich draußen die Welt ändert, dann fährt man auf diese Weise den Karren systematisch vor den Baum.
Für mich ist eine wesentliche Ursache für dieses Phänomen die Begrenztheit der BWL-Methodiken. Alles, was man so im Studium lernt, um Investitionsentscheidungen zu treffen, scheint noch einigermaßen gut zu funktionieren in etablierten Märkten und Industrien. Dann greifen Dinge wie ein Business Case und die Zahlen sind auch einigermaßen realistisch beschaffbar. Dann machen Werkzeuge wie Marktanalyse, Wettbewerbsanalyse, Umsatzprognose auch einen Sinn. Selbst die Gurus sind schlecht in der Prognose, wenn es um neue Technologien geht. So meinte der Gründungsvater von IBM, dass es wohl eine Nachfrage von fünf Maschinen weltweit gäbe. Und Ken Olsen, Gründer von DEC, konnte sich nicht vorstellen, warum jeder Haushalt einen Computer haben sollte. Und bei Facebook und Google hat man sich auch lange gefragt, wie man damit Geld verdienen soll. Der Einzige, der bis jetzt den Prozess der andauernden Neuerfindung des eigenen Unternehmens beherrscht hat, scheint mir Jeff Bezos zu sein. Schauen wir mal, was draus wird, wenn er nicht mehr da ist.
Jedenfalls bin ich fest überzeugt, dass ein Managementteam, das auf den Einsatz der bewährten BWL-Methoden für Investitionsentscheidungen und Steuerung nicht verzichten und aus dieser Denke auch nicht aussteigen kann und will, besser daran täte, sich auf die evolutionäre Innovation in ihrem Bestandsgeschäft zu konzentrieren. Dessen Gewinne sollte man in einer Holding sammeln, um dann vielleicht mal in ein Start-up richtiges Geld zu investieren. Dazu braucht man nicht unbedingt jugendliche Verrückte, sondern das geht auch mit weisen, alten Männern, wenn sie denn nur weise sind, sogar in Deutschland. Sehen Sie sich einmal die Entwicklung der Burda Unternehmensgruppe an! Da kann man nur sagen: Chapeau, Hubert Burda!
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Rainer Janßen | 14.04.2023