Management – Anregungen zum Nachdenken und Diskutieren
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Serie: Management – Anregungen zum Nachdenken und Diskutieren

Teil 17: Die Mechanismen kollektiver Verdrängung

Vor etwa 20 Jahren sagte der damalige CEO von Siemens, Heinrich von Pierer: „Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß!“ Damit wollte er zum Ausdruck bringen, dass Siemens so viele kompetente Mitarbeiter hatte, dass sicher die Kompetenz für die Lösung aller Probleme und Innovationsfragen vorhanden war, aber es so schwierig war, den jeweils wissenden Mitarbeiter für ein Problem zu finden. Die Beraterindustrie hat Pierer zum Dank sicher viele Kerzen angezündet, denn der Spruch war natürlich eine Steilvorlage für den Verkauf unzähliger Projekte zur Einführung von Wissensmanagementsystemen. Denn irgendwo haben alle das Gefühl, es müssten eigentlich mehr intellektuelle PS in den Unternehmen vorhanden sein, als tatsächlich auf die Straße gebracht werden.

Wenn es andererseits um Informationen geht, die nur eine begrenzte Anzahl von Menschen haben sollen – und vor allem nur Mitarbeiter des Unternehmens –, scheint es für Interessierte gar nicht so schwierig zu sein, an diese Informationen heranzukommen. Ob von vertraulichen politischen Treffen oder von Aufsichtsratssitzungen, geplanten Fußballtransfers oder Produkteigenschaften des nächsten iPhones:  Es steht doch alles rechtzeitig in den Medien. Und zwar auch ohne Wikileaks-Plattformen oder Whistleblower. Wenn man zu meinen frühen Zeiten in der IBM Informationen über den Stand von bestimmten Produktentwicklungen suchte, brauchte man keine Cyberattacken, sondern musste sich nur zur Happy Hour an den Tresen einer bestimmten Kneipe in Böblingen setzen und still zuhören. Ein alter Witz über das Verhalten in Unternehmen sagt: „Wenn Du willst, dass etwas von allen Mitarbeitern zur Kenntnis genommen wird, musst Du nur streng vertraulich drauf schreiben.“

Es scheint also unterschiedlich schwer zu sein, an Informationen heranzukommen, je nachdem worum es inhaltlich geht. Vielleicht verrät der Mitarbeiter seine persönliche Fachkompetenz nicht so unbedingt freiwillig, denn dies ist ja sein Eigenkapital, für das er auch entsprechend entlohnt werden möchte. Ein Beispiel hierfür habe ich bei der IBM erlebt. Das große Forschungszentrum in Yorktown Heights hatte lange gekämpft, endlich einen Nobelpreis für Physik zu bekommen, als plötzlich wirklich aus heiterem Himmel das kleine Labor in der Schweiz in Rüschlikon 1986 und 1987 gleich zwei Nobelpreise bekam (Rastertunnelmikroskopie und Hochtemperatursupraleitung). Die Kollegen in Rüschlikon haben wahrscheinlich alles getan, um unter dem Radarschirm des Zentrums zu bleiben und das Thema nicht abgeben zu müssen. Die andere Informationskategorie ist eher Tauschware unter Mitarbeitern, um sich gegenseitig informiert zu halten, wie die politische Lage ist, wer gerade mit wem und wer gegen wen kämpft. Wer hier ein gewisses Interesse hatte, einigermaßen gut vernetzt war, bei Firmenveranstaltungen bei den Abendterminen über etwas Kondition verfügte, hatte es oft gar nicht so schwer, zu den gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen zu gehören. Wer da hören wollte, hörte immer schon recht früh, wenn es in einem Teil der Organisation nicht mehr lief, wenn Assistentinnen von Top-Managern sich am Kopierer ausheulten oder zum Lachen in den Keller gingen, wenn an manchen Stellen Spesenrichtlinien recht hochherrschaftlich ausgelegt wurden usw..   

Aber dann passiert immer wieder etwas wirklich Großes und Unglaubliches und angeblich hat es keiner gewusst. Dabei sind zwei Szenarien zu unterscheiden. Es kommt immer wieder in großen Organisationen zu Skandalen, Verstößen gegen Sitte und Anstand, wo man sich verzweifelt fragt, wie die Kontrollinstrumente so fundamental versagen konnten, dass dies niemandem auffiel. In diesen Fällen kann man auf den ersten Blick den Beteiligten eine gewisse Energie zur Verheimlichung nicht absprechen. Und andererseits glaubt man auch nicht so wirklich, dass so gar keiner etwas gewusst hat. Im anderen Szenario geraten Unternehmen nahezu gesamtheitlich in eine Schieflage. Da laufen die Hotlines mit Kundenbeschwerden heiß, der Vertrieb beklagt sich über die Produktlinien, die Funktionalität, Lieferengpässe und die Preise usw. Das Unternehmen steckt echt in der Krise, aber es gelingt ihm, dies mindestens im Topmanagement noch zu ignorieren, bis es dann knallt. Dies Phänomen bezeichne ich dann als kollektive Verdrängung.

Wie schon gesagt, in manchen Fällen glaube ich es oft nicht so wirklich, dass niemand etwas gewusst hat. Wenn eine Änderung im Steuergesetz das Zahlen von Bestechungsgeldern auch in Ländern, in denen das zum allgemeinen Geschäftsstandard gehört, nahezu unmöglich macht und dann in einem Unternehmen, das öffentliche Infrastrukturen für Krankenhäuser, Bahnen oder Kraftwerke verkauft, in diesen Märkten schwarze Kassen gefunden wurden, von denen Bestechungsgelder gezahlt wurden, dann habe ich so meine Zweifel, wenn dann im Topmanagement niemand davon wusste. Denn wenn im Jahr Eins in bestimmten Ländern die Umsatzziele erreicht wurden, dann weiß ich vielleicht nicht, wie es im Detail umgesetzt wurde, aber dass jemand ein Wunder bewirkt hat, weiß ich ganz ohne Controlling, Compliance oder wie auch immer. Einfach die Tatsache, dass der Umsatz da ist, belegt, dass bestochen wurde. Und wenn sich in einem Unternehmen 125 Vertriebler auf ihrer Jahresabschlussfeier von Prostituierten bedienen lassen, wissen das kurz nach dem Wochenende sicher schon 250 Menschen. Wenn dann das Topmanagement auf der nächsten Veranstaltung des Vertriebs nach Mitternacht noch pflichtgemäß an der Bar steht, dann werden sie von diesem Event hören. Also auch da habe ich so meine Zweifel, wenn das Top-Management uninformiertes Entsetzen verbreitet.

Anders sieht es aus in Situationen, in denen es um Produkte, Kundenschnittstellen, Organisation und Prozesse, dysfunktionale Einheiten in den Unternehmen geht. Es wissen viele in der Firma, wo etwas so gar nicht funktioniert. Eine große Zahl von Mitarbeitern leidet unter dem zunehmenden Druck. Sie wissen, dass ihre Produkte oder Dienstleistungen nicht ausreichen, sie können aber nichts machen, denn ohne beispielsweise ein Upgrade der Infrastruktur ist ihr Helpdesk einfach nicht richtig zu betreiben. Als externer Kenner, vielleicht sogar Kunde spricht man mit dem Top-Management dieser Firma. Aber man hat den Eindruck, dass nichts davon beim Gegenüber, Top-Manager dieser Firma, angekommen ist.

In manchen Fällen war dies auf pure Arroganz zurückzuführen. Wenn das Produkt sehr gut ist, wird es manchmal auch nicht wegen, sondern trotz des Vertriebs gekauft. Als IT- Verantwortliche haben ich und meine Mitarbeiter immer wieder einmal Produkte favorisiert, deren Technologiebasis einfach besser war als die der Konkurrenz. Wir kannten das Entwicklungszentrum und wussten, dass die Leute wirklich Ahnung hatten. Aber bei Alternativprodukten war der Vertrieb viel besser über die Technik der eigenen Produkte informiert und hatte sich über die Bedarfe des Fachbereichs besser informiert. Da mussten wir intensiv vor- und nacharbeiten, um dann mit dem Fachbereich doch zur richtigen Lösung zu kommen. Die Chefs dieses Lieferanten haben davon anscheinend nichts mitbekommen. Sie fanden ihren Vertrieb gut, denn er hat ja verkauft. Vergleichbares habe ich bei vielen Gesprächen mit Top-Managern von Lieferanten immer wieder erlebt: Man hatte wirklich keine Ahnung, wie kritisch man im Markt von den Kunden gesehen wurde.   

Neben der Arroganz sind es aber vor allem drei Aspekte der jeweiligen Unternehmenskultur, die zu einem teilweise vollständigen Abkoppeln der Unternehmensspitze von der wahren Lage des Unternehmens an der Kundenfront führen. Gerade in Traditionsunternehmen gibt es oft eine langjährige Tradition des höflichen Umgangs miteinander: Man kritisiert den Kollegen, den anderen Fachbereich nicht öffentlich, denn wir sind alle Teil einer großen Familie. Kritik am eigenen Unternehmen wird, wenn überhaupt, nur vorsichtig geäußert. Weiter gibt es in diesen Unternehmen eine starke Hierarchie. Man redet nur mit seinem Chef und der mit dem nächsten Chef usw. Eine hierarchieübergreifende Kommunikation findet nicht statt. So erreicht nur eine über mehrere Sanftmacherfilter modifizierte Version der Wahrheit die Spitze. Und last but not least gibt es eine etablierte Praxis, den Überbringer schlechter Botschaften zu bestrafen. Wir sind schon so lange ganz toll und immer die Besten, deshalb kann es gar nicht sein, dass wir etwas schlecht machen. Wer das behauptet, ist ein Nestbeschmutzer und muss entfernt werden.

Bei den letzten beiden großen Beispielen von „wir haben nichts gewusst“ in der deutschen Industrie bin ich nicht so ganz sicher, in welche Kategorie sie fallen. Beim Dieselskandal trifft für einen von einem Sonnenkönig geführten Player vieles aus dem eben geschilderten Szenario zu. Andererseits waren dort sehr qualifizierte Ingenieure an der Spitze, die sehr an den Details der Technik interessiert waren und mit Sicherheit wussten, dass es schwierig war im US-Markt die Reinheitsgebote einzuhalten, ohne zusätzliche technische Investitionen, die aber die Profitabilität des Diesels in diesem Markt zerstört hätten. Selbst wenn sie nicht über Details informiert waren und trotz der starken Hierarchie, hätten sie schon Witterung aufnehmen müssen, dass wohl irgendjemand ein Wunder bewirkt hat. Und bei Wirecard sollen es die großen Chefs ganz allein gemacht haben? Der Vertrieb hat nicht gemerkt, dass Zahlen und eigene Arbeit nicht zusammenpassen? In der IT hat man keine Differenz zwischen Umsätzen in einer Region und Infrastrukturnutzung gesehen? Der Laie staunt und der Fachmann wundert sich!

Jedenfalls rate ich Ihnen noch einmal, wie im Abschnitt über das Zuhören: Schaffen Sie sich Informationskanäle an die Basis, an der Hierarchie vorbei, fördern Sie kritische Diskussion und erschießen Sie niemals, wirklich niemals den Überbringer schlechter Botschaften! Gute und schlechte Nachrichten haben in Hierarchien unterschiedliche Reisegeschwindigkeiten. Gute Nachrichten gehen schnell nach oben, kommen aber langsam in Form von Lob oder Gehaltserhöhung nach unten, während schlechte Nachrichten schnell nach unten kommen, aber oft nur sehr langsam nach oben. Der letzte Fall ist das kritischste Problem für jeden Manager. Sie müssen alles tun, damit schlechte Nachrichten schnell nach oben kommen. 

Und ganz zum Schluss erlaube ich mir, Ihnen noch eine Kinoempfehlung zum Thema zu geben. Schauen Sie sich den Film von Maria Schrader „She said“ an. In ihm wird die Geschichte der beiden Journalistinnen der New York Times Kantor und Twohey geschildert, die den Skandal um den Hollywood-Produzenten Harry Weinstein aufdeckten und damit die #metoo-Bewegung auslösten. Wie hier eine Organisation über Jahrzehnte das kriminelle Fehlverhalten eines führenden Mitglieds schützt, macht einen schon nachdenklich. Auch hier haben viele von den Vorgängen gewusst, aber trotzdem kam es lange Zeit nicht wirklich an die Öffentlichkeit. Da darf man sich dann nicht wundern, dass so manche Verschwörungstheorie weiterhin seine Anhänger findet.

 

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Rainer Janßen | 06.03.2023

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