Lorenz Müller, CIO der Bauerfeind, im Interview mit Robby Wirth.
Was waren die wichtigsten technischen Herausforderungen bei der Umsetzung des Digitalisierungsprojektes?
Vor allem die Komplexität und Integration der beteiligten Geschäftsprozesse. Der Prozess beginnt bei der Initiierung: Welches Krankheitsbild sehen wir? Wie kann man das therapieren? Da sind eher Marketing-Wissenssysteme, Content Management Systeme bis hin zu Social Media Plattformen und ähnliches gefragt. Die SAP-Integration war ein weiterer Punkt. Da haben wir aus der Vergangenheit gelernt. Diese Integration sollte nicht zu eng sein. Das bisherige System funktionierte nur, wenn SAP-ERP auch funktionierte. Bei System-Upgrades oder anderen Wartungsarbeiten konnte damals im E-Commerce nicht bestellt werden. Wir suchten also eine lose Integration, die immer, wenn ERP/SAP verfügbar ist, direkt darauf zugreift, anderenfalls puffern kann und auch standalone funktioniert. Ein weiteres großes Thema war das PIM, also das Product Information Management System. Man muss heute unterschiedliche Informationsbedürfnisse befriedigen und die entsprechenden Produktinformationen nicht nur in Fakten, sondern auch in Videos, Produktbildern und Maßzeichnungen geordnet ablegen und wiederfinden.
Bauerfeind produziert neben den Standardprodukten sicher viele individuelle Produkte?
Genau, es gibt Produkte, die in Standardmaßen angeboten werden und für viele Behandlungsfälle gut funktionieren. Im Bereich der Kompressionsstrümpfe sind mindestens 75 % Individualfertigungen. Dabei läuft die digitale Integration nahtlos: vom Messsystem zum Online Shop, dann weiter in die Produktion. Hier fertigt das individualisierte Strickmaschinenprogramm den einzelnen Strumpf exakt so, wie gemessen. Das muss für jeden einzelnen Patienten neu berechnet werden. Dazu haben wir spezielle Mess-Systeme nach Maßgabe des Medizinproduktionsgesetzes entwickelt. Die größeren Sanitätshäuser und auch einige Fachklinken für Venenversorgung arbeiten standardmäßig mit solchen Systemen.
Das stellt hohe Anforderungen an das IT-System. Für welche Plattform hat sich Bauerfeind entschieden?
Wir haben uns nach langem Entscheidungsweg für SAP-Hybris entschieden. Dazu haben wir vor 4 Jahren die üblichen Analysteneinschätzungen ausgewertet und verschiedene Systeme verglichen. Wir haben festgestellt, dass einige Lösungen nahezu gleichauf lagen. Nach einem detaillierten Vergleich fiel die Entscheidung auf SAP-Hybris.
Welchen Zeitrahmen hatte das Projekt? Wie sah die Projektorganisation aus?
Wir hatten eine spezielle Projektorganisation gegründet, weil wir ja nicht nur die B2B Plattformen modernisiert, sondern auch einen neuen Vertriebskanal B2C in den USA implementiert haben. Dazu gab es fünf Teilprojekte: eine Gruppe übernahm das PIM, weil man einen Endkunden nicht mit medizinischen Fachbegriffen ansprechen kann. Ein weiteres Team erneuerte den B2B Shop, der in einer überalterten Form ja schon bestand. Ein drittes Team war für den B2C Vertriebskanal, beginnend mit den USA, zuständig, eine weitere Gruppe für den Bereich Maßprodukte mit der Integration unserer unterschiedlichen Messsysteme, aber auch der von Wettbewerbern. Das fünfte Team entwickelte neue Messtechnik-Applikationen. Es ging nicht nur um die Einbindung von Hybris, sondern auch um die Anpassung im ERP, die Ablösung des alten PIM und des alten MAM Systems.
Wie hat die Hybris-SAP Integration funktioniert?
SAP und Hybris haben sich zusammengesetzt und haben eine Kopplungstechnologie namens Data Hub entwickelt. Ziel ist, Standarddaten, Lieferdaten, Preisveränderungen, Artikelinformationen zwischen SAP und Hybris auszutauschen. Der Data Hub in der ersten Version war nicht stabil und performant. Wir haben selbst noch viel entwickeln müssen, was heute im Hybris Standard enthalten ist.
Hat das zu zusätzlichen zeitlichen und finanziellen Belastungen geführt?
Ja, insbesondere die zeitliche Dimension haben wir unterschätzt. Wir hatten keinen Puffer. Es sind weitere Projekte im Unternehmen, Engpässe in Fachabteilungen und beim IT-Personal hinzugekommen. Die Umsetzung in Hybris erforderte mehr Know-how und war komplexer als geplant. Zum Teil konnten wir das über die Verträge, die wir mit dem Implementierungspartner hatten, zumindest finanziell puffern. Unterm Strich hat sich die geplante Projektlaufzeit von 8 Monaten auf 16 Monate verdoppelt.
Wie viele Personen waren da ungefähr beteiligt?
Es gab sehr unterschiedliche Phasen. In der Spitze waren es 15 Personen und im Schnitt 7 Mitarbeiter beim Implementierungspartner. Auf unserer Seite arbeiteten 15 – 20 Personen in der Spitze und im Durchschnitt der Projektlaufzeit 7 – 8 Mitarbeiter daran.
Wie wird Hybris heute betrieben?
Wir haben ein internes Team aufgebaut und damit das Know-how im Unternehmen. Hybris hat mehrere Module: PIM, E-Commerce Module und CRM Module. Wir haben unsere Mitarbeiter darin ausgebildet. Das war ein hoher Aufwand. Wir ergänzen unsere internen Kapazitäten darüber hinaus mit einem renommierten Hybris-Implementierungspartner.
Abschließend noch die Frage: Was können andere CIOs von dem Projekt lernen?
Dass sie eine Menge Energie mitbringen müssen. Es gibt viele Herausforderungen. Das Thema wird im Unternehmen nicht überall unterstützt, weil es eine Veränderung der Prozesse, der Denkweisen und der Arbeitsschritte mit sich bringt. Es ist eine zusätzliche Belastung fürs Tagesgeschäft. Wir haben mittlerweile unseren Außendienst und seine Kunden durch die neuen Produktinformationen massiv unterstützt. Das Aufgabengebiet und die Art der Zusammenarbeit haben sich völlig geändert. So kann sich der Fachhändler oder Arzt nun selbst digital Informationen beschaffen, die früher der Außendienst geliefert hat. Diese Mitarbeiter im Außendienst hatten Sorge, überflüssig zu werden. Wir mussten den Paradigmenwechsel erklären und Akzeptanz schaffen. Weniger beratende als wertstiftende Aufgaben rückten in den Vordergrund. Change-Management in der Organisation war unser Schlüssel zum Erfolg.
Sofern Sie den ersten Teil des Interviews noch nicht gelesen haben, finden Sie diesen hier.
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Robby Wirth | 24.04.2018