Vielleicht war sie es auch immer schon. Zumindest dem Big Bang, dem Urknall kann man Agilität nicht absprechen! Er hat etwas geschaffen, was an Schönheit, Komplexität und Anpassungsfähigkeit nicht zu übertreffen ist – unseren blauen Planeten und den unendlichen Kosmos.
Unser Hund ist agil, betreibt sogar Agility, allerdings nicht ohne anschließende Leckerchen – Motivation ist das Motto. Ältere Menschen werden immer agiler, reisen, gehen regelmäßig in Konzerte und ins Theater und sogar ins Fitnesscenter – zumindest, wenn Corona und die Rückenschmerzen es zulassen.
Was steckt aber dahinter? Zumindest beim Menschen die Absicht, zu agieren, statt zu stagnieren, idealtypisch auf Basis des eigenen Willens, vielleicht auch der des Hausarztes oder des Ehepartners. Aber selbst bei einer gewissen Fremdbestimmung geht nichts ohne das eigene Wollen, die Motivation.
Der Duden beschreibt Agilität als Synonym für Gewandtheit, Vitalität oder auch Wendigkeit.
Nun wollen also auch Großunternehmen agil werden. Das ist modern, zukunftsorientiert und freut die Kapitalanleger oder deren Analysten. Warum will ein großer Konzern gewandt, vital, wendig sein? Primäre Unternehmensziele sind Wachstum, Ertrag und ein hoher Unternehmenswert. Wahrscheinlich kann sich ein agiles Unternehmen schneller an sich verändernde Umfeldbedingungen anpassen. Es kann sich Nachfrageveränderungen im Markt, verstärktem Wettbewerb durch andere Markteilnehmer oder dem Eintritt neuer Wettbewerber erfolgreich anpassen. Das sollte im Sinne der aktuellen Lehrmeinungen zu mehr Umsatz und Ertrag führen.
Steigert Agilität also automatisch den Ertrag? Erst einmal kostet der Weg dahin Geld. Agile Coaches, Head of Agile Transformation, Chief Agile Officers (CAO?) oder andere Agilitäts-Beauftragte und -Kümmerer erhalten – sei es nun als interne Mitarbeiter oder externe Berater – Gehälter oder Honorare. Arbeitskreise verbrauchen Kapazitäten und Geld. Ertragreicher ist der Weg zur Agilität nur dann, wenn dies am Ende zu ertragreichem Wachstum oder nachhaltigen Kosteneinsparungen führt, die die Kosten des Weges dahin deutlich übersteigen.
Sicherlich reizt das Ziel der Agilität die Fantasie von Analysten und Kapitalanlegern und steigert so den Börsenwert. Weg vom Wasserfall hin zu vielen kleinen, sich ihre eigenen Wege suchenden Bächen, die dann zu einem unwiderstehlichen großen Strom zusammenfließen – wer will sich dem in den Weg stellen?
Häufig beginnt man den Weg zur Agilität in der IT. IT-Projekte werden nach agilen Methoden organisiert. Product Owner werden gesucht, Scrum Master geschult, Fachbereichsmitarbeiter in die Teams integriert. Das ist eine andere, sicherlich gute Form der Organisation von Programmen und Projekten, als sie heute vielerorts praktiziert wird. Neu ist allerdings im Wesentlichen nur die andere Formalisierung dieser Prozesse, weniger der Team-Gedanke dahinter.
Wenn dann allerdings die Projektleiter weiterhin in regelmäßigen Steering-Committee-Meetings detailverliebt hinterfragen lassen müssen, warum denn dies oder jenes fachlich unberücksichtigt bleibt, warum die vorher festgelegten Budgets schon mehr als anteilig verbraucht sind, und wenn man dann das agile Team wieder zurück auf Los schickt, konterkariert das die gewünschte Agilität. Aber selbst wenn in IT-Vorhaben wirklich agil gearbeitet werden kann, ist damit nicht das Unternehmen ebenfalls agil.
Große Unternehmen suchen nun per Stellenanzeige „Agile Coaches“, um Führungskräfte und andere Mitarbeiter in agilen Rollen zu schulen und zu begleiten. Die Stellenbeschreibungen erinnern mich teilweise an die guten alten DV-Koordinatoren, die die Fachbereichsbelange in den IT-Projekten wahrnehmen. Oder die Unternehmen richten Stabsstellen ein, die die Agilität des Unternehmens vorantreiben sollen.
Aber kann man einen so grundsätzlichen Change wirklich von oben anweisen, so wie der Hausarzt dem Herzpatienten eine Life-Style-Veränderung empfiehlt?
Gleichzeitig sind zunehmend Berichtserfordernisse z.B. aus Compliance-Regeln zu erfüllen und die vielen Hierarchie-Ebenen des Konzerns mit seinen Berichtswegen existieren weiterhin. Der Staat, der uns in den 1990er-Jahren deregulierte, treibt uns nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte in immer mehr Regulierung, da es tatsächlich Manager gibt, die legitim und legal verwechseln oder gleich illegal handeln. Fehlende Wertesystemen lassen grüßen.
Der Weg zu einem agil handelnden Unternehmen mag oder sollte ganz oben in der Hierarchie als strategisches Ziel beginnen. Wie immer ist es Aufgabe der Konzernleitung das Zukunftsbild zu zeichnen, hier das des wendigen, vitalen, schnell agierenden Unternehmens. Zum Erfolg wird dies aber nur, wenn „die da unten“, die Mitarbeiter in ihrem Handeln agil werden. Die Menschen müssen den Veränderungsprozess annehmen. Agilität beinhaltet unter anderem, den Mitarbeitern zu vertrauen, ihnen mehr zuzutrauen, mehr Freiraum zu geben, mehr Raum eigenverantwortlich zu entscheiden und zu handeln. Wendigkeit in starren Strukturen mit einem engen Korsett an Berichtspflichten und Hierarchien widerspricht dem.
Ja, in einer sich immer weiter beschleunigenden, globalisierten Welt mit großer Marktdynamik und – zumindest von weit vorausschauenden Beratern proklamierten – disruptiven Wettbewerbssituationen sollten Unternehmen versuchen, agiler zu werden. Das beginnt aber nicht nur in der IT. Dafür benötige ich wahrscheinlich auch keinen Agilitäts-Beauftragten oder -Coach.
Es beginnt – wie jeder gravierende Veränderungsprozess – mit grundsätzlichen Verhaltensänderungen im Management. Vertrauen statt Kontrolle, Zutrauen zur Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter, Risikobereitschaft statt risikominimierenden Managements, Loslassen statt Festhalten, eine fehlertolerante Kultur, Teamorientierung statt Hierarchien – ein wirklich tiefgreifender Kulturwandel.
Mittelständische Unternehmen, in denen der Unternehmer noch nahe bei seinen Mitarbeitern ist oder sie sogar kennt, tun sich da leichter. Inhabergeführte Unternehmen, bei denen der Chef sein eigenes Geld riskiert, sind risikoaffiner. Großkonzerne, vielleicht sogar noch mit mehreren hierarchischen Vorstandsebenen haben hingegen einen längeren Weg vor sich.
Vielleicht versucht man erst einmal seinen Mitarbeitern zu vertrauen, ihnen etwas zuzutrauen. Vielleicht gibt man den Menschen Freiheiten statt detaillierterer Arbeitsanweisungen. Screenen Sie die Unternehmensprozesse End-to-end. Automatisieren Sie möglichst die sich häufig wiederholenden, stark standardisierbaren Prozesse. Geben Sie den Mitarbeiter, die die nicht automatisierbaren Prozesse beherrschen, ausreichende Kompetenzen, damit diese solche Vorgänge eigenverantwortlich beenden können. Das sind Schritte zu einem agilen Unternehmen.
Menschen sind von Natur aus – manche mehr, manche weniger – agil, wenn man sie nur lässt.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich finde den Weg zu mehr Agilität richtig. Aber dieser lange Weg beginnt mit Vertrauen, Zutrauen, Delegation von Verantwortung, nicht mit Agilitätsbeauftragten.
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Claus-Peter Gutt | 17.06.2021