Die Studienstiftung des Deutschen Volkes ist Deutschlands größtes und ältestes Begabtenförderungswerk. In den Auswahlverfahren wurde immer nach dem hochintelligenten unter Wasser Geige spielenden Spezialisten für die Renaissancekirchen Norditaliens gesucht. Kurzum der vielversprechende Wissenschaftler, der gleichzeitig sportlich, musisch begabt und an Kunst und Historie interessiert war. Nur für Leute wie mich – Mathematiker – gab es einen gewissen Nerd-Bonus.
Ich habe nun im Laufe meines Lebens einige beeindruckend universell gebildete Menschen kennengelernt, aber als Grundmodell für den durchschnittlichen Mitarbeiter taugen sie sicher nicht. Auch Sie und ich fallen nicht in diese Kategorie.
Früher haben Unternehmen fast alles, was für die Erstellung der Produkte oder Dienstleistungen notwendig war, selbst gemacht. Auch die internen Dienstleistungen wie Hausreinigung, Werkskantine, Postverteilung, Telefonzentrale, Druckerei usw. Teilweise hat man das sicher auch gemacht, weil es viele der heutigen Dienstleister nicht gab, aber meist war man zusätzlich noch überzeugt, dass es sonst keiner so machen kann, wie man es braucht.
Wenn es dann auch nur in die Nähe des eigenen Geschäfts rückte, wurde es ganz hart: Das konnte man überhaupt nicht nach außen geben, da würde man im Wettbewerb um den Kunden total verlieren, wenn man das nicht mehr selbst machen würde. Sogar die Verwaltung von Kundenverträgen wurde als wettbewerbsrelevant angesehen, da kam nicht einmal eine Standardsoftware in der IT in Frage, sondern es musste etwas Eigenentwickeltes sein. Ich habe mich da doch oft gefragt, ob das wirklich ernst gemeint ist, denn mir als Kunde war es immer vollkommen egal, wie und mit welchen Hilfsmitteln mein Lieferant die Buchhaltung gemacht hat. Und beim Callcenter ist auch nicht entscheidend, mit welcher Software sie dieses steuern, oder welche Musik sie in der Warteschleife abspielen, sondern mich interessiert nur, ob jemand vor einer halben Stunde den Telefonhörer abnimmt und ob diese Person etwas weiß!
Irgendwann fingen dann die Berater die Debatte um die Kernkompetenzen an. Kernkompetenzen sind die Handlungsbereiche, die einen Unterschied in meinem Geschäft machen und in denen ich gut bin, eben kompetent. Manche Unternehmen haben dabei den letzten Teil falsch verstanden und Kernkompetenz als Bereiche im Kerngeschäft definiert, in denen sie kompetent sein sollten. Aber jedenfalls begann nach und nach ein aktives Nachdenken, was man selbst machen sollte und was nicht.
Einerseits spielen dabei Praktikabilitätsgründe eine Rolle. Bringe ich eine 7×24 Stunden Hotline eigentlich überhaupt in den Tarifverträgen meiner Industrie unter? Passen die Mitarbeiterstrukturen, die Arbeitszeiten und Managementaufgaben eines Dienstleisters rund um das Haus zusammen mit einer IT- Beratung oder einem Engineering-Dienstleister?
Sukzessive wurde man dadurch gezwungen, darüber nachzudenken, was denn die Identität und der Fokus der eigenen Firma ist. Was wollen wir machen, worin sind wir wirklich gut, wo wollen wir beim Kunden den Unterschied bewirken, wofür wollen wir im Markt respektiert werden. Dies heißt dann gleichzeitig auch als Konsequenz: Was wollen wir denn nicht machen?! Und welches von dem, was wir nicht machen, lassen wir durch andere für uns machen und was machen wir schlicht überhaupt nicht.
In meinem früheren Job als CIO habe ich in Gesprächen mit potentiellen Partnern aus der IT- Branche immer wieder nach deren Fokus gefragt und meistens kam mehr oder minder verklausuliert die Antwort: Wir sind das Universalgenie der Branche. Wir können alles. Sag uns, was für ein Problem Du hast und wir machen es. Es fällt anscheinend den meisten Unternehmen schwer, zu Tätigkeitsfeldern im Umfeld des eigenen Geschäfts wirklich Nein zu sagen. Und manche Unternehmen haben mittlerweile so viele Mitarbeiter, dass man glauben könnte, dass die doch für alles die Lösung haben müssten. Tata Consultancy Services überschritt 2022 die Zahl von 600.000 Mitarbeitern! Da sollte doch wohl für jedes IT-Thema einer dabei sein?
Na ja, auch bei den ganz großen Dienstleistern stellt man dann trotz aller Skills-Datenbanken fest, dass es doch schwerer ist als man denkt, die benötigte Qualifikation zu finden – und die dann auch für mich freizustellen. Vor allem aber ist es nicht für jedes Unternehmen ratsam, sich mit so einem Riesen zu verbinden: Als Maus solltest Du vielleicht nicht mit dem Elefanten tanzen!? Wenn er Dir auf den Fuß tritt, tut es Dir Maus sehr weh, aber umgekehrt? Und in einer Geschäftspartnerschaft ist es manchmal gar nicht gut, wenn dem Partner ein Tritt von mir nicht mehr weh tut.
Aber es gibt auch Gründe, warum eine bestimmte Kombination von Dienstleistungen nicht in die gleiche Firma passen. So gibt es oft eine Hierarchie der Themen im Ansehen der Mitarbeiter. In der IT-Dienstleistung gilt Strategieberatung als edel, Projektarbeit und Umsetzung als O.K. und noch in Ordnung. Basis-Dienstleistungen wie Callcenter und Desktop-Services gelten dann doch eher als Thema für die schlichteren Gemüter. So hieß in der IBM in den 80er Jahren der Technische Außendienst, zuständig für die Wartung der Großrechner, leicht verächtlich „Fraktion Öle und Fette“, obwohl es der profitabelste Bereich des Unternehmens war. In einer Firma, die ausschließlich Desktop-Services und Callcenter anbietet, werden Ihnen Mitarbeiter und Manager mit leuchtenden Augen von neuesten Entwicklungen, Prozessverbesserungen und, und, und erzählen. In einem Unternehmen, das alle drei Schichten bedient, wird der Manager des Callcenters Ihnen erzählen, dass die Verbannung ins Callcenter bald ein Ende hat und er bald wieder zu den richtigen Kerlen in die Strategieberatung darf. Bei wem würden Sie lieber einkaufen? Doch wohl lieber dort, wo die Leute wirklich das machen wollen, was sie machen, und nicht eigentlich lieber ganz wo anders sein möchten.
Es kann auch sein, dass einfach die Geschwindigkeiten von bestimmten Geschäftsfeldern nicht zusammenpassen. Kraftwerke, Bahninfrastrukturen und Ähnliches hat relativ langsame Vertriebs- und Entscheidungsprozesse und auch die Produktzyklen sind eher länger. In den Zeiten als die Telefonie noch von Postministerium gesteuert – und das neue Tastentelefon erst geliefert wurde, als alle Drehscheibentelefone ausverkauft waren, passte das noch zusammen in ein Unternehmen. Zu Handyzeiten, als alle sechs Monate neue Modelle, neue Technologien und neue Services kamen, passte das einfach nicht mehr zusammen!
Der wichtigste Grund, warum ich mich allerdings auf Weniges fokussieren sollte, um darin dann wirklich gut zu sein, ist die zunehmende Digitalisierung. Damit wird es zunehmend möglich, die Dienste von Unternehmen ortsunabhängig zu verknüpfen. Ich kann es mir zunehmend nicht mehr leisten, eine nur durchschnittliche Leistung anzubieten, weil vor Ort nichts Besseres da ist. Das Netzwerk aus Unternehmen, die jeweils ihre Identität und ihren klaren Fokus haben, wird in Zukunft gewinnen. Aber in diesem Konzert darf man nur mitspielen, wenn man die neue und praktisch nun für alle Unternehmen absolut notwendige Kernkompetenz besitzt: Die Fähigkeit zur leichten Vernetzung und Entnetzung. Man muss seine interne Prozesslandschaft ausreichend im Griff haben, um klare Schnittstellen zu externen Partnern zu haben und diese Schnittstellen müssen ausreichend standardisiert sein, um leicht andocken und ablegen zu können. Die Fähigkeit zur schnellen und flexiblen Vernetzung mit anderen Unternehmen wird aber definitiv eine entscheidende Kernkompetenz für die Zukunft sein!
Das hier Beschriebene gilt übrigens nicht nur für Organisationen wie das Gesamtunternehmen oder auch Teilbereiche wie etwa die IT, sondern auch für die Einzelperson, den Manager selbst. Man sollte wissen, wo man – alleine oder mit seiner Organisation – in Unternehmensprojekten wirklich einen Beitrag leisten kann aufgrund seiner Kompetenz und Erfahrung und wo man das Feld zu Recht lieber den Kollegen oder externen Dienstleistern überlassen sollte. Es ist nicht wichtig, immer dabei zu sein. Es ist besser sich auf die Themen zu beschränken, bei denen man einen Unterschied machen kann.
Auch ein starkes persönliches Netzwerk zu Managern in anderen Unternehmen hilft immer wieder sehr. Natürlich muss man in der eigenen Branche ein bisschen Vorsicht walten lassen, um keinesfalls Firmenvertraulichkeiten zu verletzen oder mit dem Kartellrecht in Konflikt zu geraten. Aber in vielen Themenbereichen kann man sich doch vertrauensvoll austauschen und voneinander lernen. So hat ein anderer die Softwareeinführung schon gemacht, die ich gerade beginne. Oder hat mit dem Dienstleister schon Erfahrungen, mit dem ich gerade einen Vertrag machen will. Nach Corona ist sicher ein Austausch über die Erfahrungen mit Home-Office und virtuellen Meetings sehr interessant. Manches über solche Themen erfährt man wohl auch auf Fachtagungen, aber meistens werden dort die schönen Erfolgstories berichtet und nicht, wo es geknirscht und geklemmt hat.
Die Zeiten des Zehnkämpfers gehören in einer zunehmend digitalisierten Welt jedenfalls der Vergangenheit an. Wenn ich genauso bei den zehn Weltrekordlern in den zehn Disziplinen einkaufen kann, warum sollte ich die Leistung bei jemanden einkaufen, der in vielem eher durchschnittlich ist? Die Zukunft gehört denen, die sich fokussieren und in ihrem Thema richtig gut sind und sich gleichzeitig mit anderen Menschen, Services, Unternehmen sehr schnell und effizient vernetzen können. Das Netz gewinnt!
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Rainer Janßen | 06.07.2023