Management – Anregungen zum Nachdenken und Diskutieren

Serie: Management – Anregungen zum Nachdenken und Diskutieren

Teil 25: Nicht denken lassen, sondern selber denken!

Jeder von uns ist einzig. Selbst eineiige Zwillinge. Genauso sind Unternehmen einzig. Sie haben andere Menschen – Mitarbeiter, Chefs, Gründer – andere Geschichte, existieren an anderen Orten.  Sie haben selten wirklich die gleichen Kunden, die gleichen Produkte, die gleichen Dienstleistungen, die gleiche Größenordnung. Nicht alles davon müsste so sein, nicht alles davon sollte so sein, nicht alles sollte so bleiben. Aber im Ausgangspunkt ist erst einmal diese Verschiedenheit da.

Wenn Sie selbst ein gesundheitliches Problem haben, bin ich fest überzeugt, dass Sie erst einmal eine Internetrecherche starten, was das sein könnte. Versuchen zu begreifen, ob man damit erst einmal zum Hausarzt geht oder direkt zum Spezialisten und wenn ja, welchen. Dabei sitzen Sie vielleicht auch einmal einem Scharlatan auf – suchen Sie mal nach Rat, ob Sie sich gegen Corona impfen lassen sollen – und nerven den Arzt mit Ihrem Pseudowissen, aber es ist selbstverständlich, dass man sich erst einmal selbst versucht, schlau zu machen.

Viele Manager, Unternehmen, Ministerien handeln in einem Problemfall anders: Sie gehen nicht über Los, ziehen nicht 4000 Mark ein, sondern gehen direkt zu ihrem Berater. Der Berater hat meistens für eine bestimmte Problemklasse eine Vorgehensmethodik entwickelt. Damit gewinnt er seine Wirtschaftlichkeit, denn so kann er immer wieder Mitarbeiter einbinden in ihr Projekt, die von ihrem Unternehmen und ihrem Problem nur begrenzte Ahnung haben. Es geht dann oft frei nach dem alten Motto: „Gib dem Kind einen Hammer und alles sieht wie ein Nagel aus.“

Bei diesem Vorgehen geht nämlich meist die Verschiedenheit ihres Unternehmens verloren. Es bedarf dann großen Aufwands, dem Berater wieder zu erklären, wie das Unternehmen tickt, warum manche Dinge anders gemacht werden etc. und ihn zu überzeugen, diese Individualität dann wenigstens teilweise in seine Vorschläge an die Unternehmensleitung zu übernehmen. Dabei wird man manchmal auch sehr leicht falsch verstanden und diese falschen Ideen landen dann im Handlungsvorschlag für den Vorstand. Diese immer wiederkehrende Situation ist Ursache für viele zynische Beraterwitze wie etwa diesen:  Ein Berater ist jemand, der auf Ihre Uhr schaut, Ihnen die Zeit sagt, die Sie schon kennen – und dafür dann Ihre Uhr mitnimmt!

Aber es ist meist ja gar nicht der Berater, der da etwas falsch gemacht hat, sondern ganz oft ist dieses Vorgehen ein Indiz dafür, dass ich als Manager vorher meine Hausaufgaben nicht gemacht habe, Probleme nicht angegangen bin, mir neue Ansätze, mein Geschäft zu betreiben, nicht selber angesehen habe, erkennbares Verbesserungspotential nicht genutzt habe, weil ich mich vor den weiter oben besprochenen frühen schmerzhaften Einschnitten gedrückt habe! Ein klarer Indikator, dass man etwas versäumt hat, ist es, wenn man aus dem Top-Management den Spruch hört: „Wir werden doch nicht den Frosch fragen, wie man den Sumpf trocken legt!“

Immer wieder kommen dann am Ende Umsetzungsvorschläge heraus, die nicht prinzipiell falsch sind, aber auch nicht wirklich passen. Es gab Zeiten, da war Outsourcing in Mode. Bei einem Kostensenkungsprogramm war es deshalb nicht unwahrscheinlich, dass der Berater für bestimmte Teilprozesse oder Aufgabenbereiche ein Outsourcing vorgeschlagen hat. So kann es sein, dass bestimmte IT-Dienstleistungen wie der Mail-Service rund um die Uhr verfügbar sein muss, da die Mitarbeiter auch zu Hause oder am Wochenende oder auf Dienstreisen in anderen Zeitzonen Zugriff brauchen. Ein 7×24 Stunden Betrieb ist aber sehr teuer und auch wegen der Arbeitsverträge in vielen Firmen nicht darstellbar. Deshalb wurde manchmal ein Outsourcing des Systembetriebs vorgeschlagen. Wenn die Organisation aber überhaupt nicht auf die Anbindung und die Steuerung eines solchen Outsourcing-Partners vorbereitet ist, kann das dazu führen, dass man keinen Sumpf trockengelegt hat, sondern nur einen viel größeren Sumpf geschaffen hat, aus dem man nur mit sehr teuren Rettungsprojekten wieder herauskommt.

Es empfiehlt sich also, lieber selbst zu denken als für sich denken zu lassen. Man kann immer noch für alles und jedes Spezialisten hinzuziehen und sich beraten lassen, aber es ist immer hilfreich, schon vor der Beratung so ungefähr zu wissen, welcher Art die Empfehlungen sein könnten, nach welchen Risiken und Nebenbedingungen ich mich erkundigen sollte, ob Vorbedingungen auf meiner Seite zu erfüllen sind und ob ich diese erfülle.

Dies fordert von jedem einzelnen Manager wie auch von der Gesamtorganisation die Bereitschaft des kontinuierlichen Lernens, Hinterfragens und Analysieren des Status Quo: Stimmen die Annahmen, die zu meiner Verschiedenheit, meinem Anderssein führen noch, gibt es neue Methoden, Organisationsformen, die meiner Art, das Geschäft zu erledigen, überlegen sind usw. Dies muss verbunden sein mit dem Anspruch, auch meine Mitarbeiter darin zu trainieren, die Umsetzung von als notwendig erkannten Veränderungen zu konzipieren und durchzuführen.

Man sollte sich bewusst sein, dass dies kostet. Man braucht Zeit dafür. Und es ist wieder einmal etwas aus der Kategorie „wichtig, aber nicht dringend“, deshalb gerät es gerade bei erfolgreichen Unternehmen und bei Mittelständlern, wenn der Chef allein denkt, unter die Räder des Alltagsgeschäfts. Welche Folgen es allerdings hat, wenn man diese Kosten scheut oder seinen Mitarbeitern diese Arbeit grundsätzlich nicht zutraut, kann man bei großen Behörden wie der Bundesagentur für Arbeit oder den Bundesministerien beobachten. Dort spielt sich das Geschehen ja quasi auf öffentlicher Bühne ab. Ohne starke Beraterbataillone geht dort anscheinend gar nichts mehr und mit leider auch nicht. Im Gegensatz zu Wirtschaftsunternehmen haben aber Behörden, die beispielsweise ihren Beschaffungsprozess nicht in den Griff bekommen, den unschätzbaren Vorteil nicht bankrottgehen zu können und aufgelöst zu werden. Ein Unternehmen, das die Fähigkeit zum „selber denken“ verliert, wird über kurz oder lang seine Existenz oder mindestens seine Unabhängigkeit verlieren.

Aus dem Anspruch, selber denken zu wollen, folgt nicht notwendig, dass man alles selbst erfinden muss. Denn aus der oben behaupteten Einzigartigkeit von Unternehmen folgt nicht, dass man alles auf einzigartige Weise tun muss. Beim Thema Buchhaltung sollten eigentlich die meisten Unternehmen mit einer relativen Standardlösung klarkommen. Nur wenige, ganz spezialisierte Organisationen wie Enron, Worldcom, Flowtex oder Wirecard brauchen vielleicht einige wirklich ganz individuelle Anpassungen. Und so darf man frohen Mutes die Ideen aus den Büchern der Berater und Professoren, die vielfach auf Tagungen publizierten Ideen unsere Konkurrenz abkupfern und es für den eigenen Gebrauch anpassen. Es gibt vielleicht ein Copyright darauf, ich darf das Buch also nicht abschreiben, aber in aller Regel gibt es auf Geschäftsprozesse noch wenig Patente. Das muss nicht so sein und so bleiben. Der Erfinder des Konzepts der Selbstbedienungsläden, Clarence Saunders, hat 1917 das US Patent #1,242,872 für das Konzept des Selbstbedienungsladens erhalten und in der Folge auch drei weitere Patente für das Basisdesign der Läden, für die Preisauszeichnungsverfahren und die Verwendung des Ausdrucks der Addiermaschine als Quittung. Und die ersten Konkurrenzunternehmen zu seiner eigenen Ladenkette Piggly Wiggly arbeiteten auch auf der Basis seiner Patente. Nach meinem Eindruck hat man das Thema lange ignoriert, aber seit viele Geschäftsprozesse dank der Digitalisierung in technischen Systemen abgebildet und dokumentiert sind und für den Markt auch nach außen sichtbar werden, scheint das Interesse und das Potential für die Patentierung von Geschäftsprozessen größer zu werden. Das Buch von Möhrle, Walter zur Patentierung von Geschäftsprozessen (Springer 2009) mag Ihnen dazu einen ersten Eindruck geben.      

Und einfach nachmachen, ohne zu verstehen? Hilft auch nicht, wie die folgende Geschichte zeigt: Zwei Ingenieure und zwei Manager eines Unternehmens treffen sich am Münchener Bahnhof auf dem Weg zu einem Workshop am Tegernsee. Die Manager sehen, dass die Ingenieure nur ein Ticket lösen. Sie wundern sich, denn auf der Strecke kommt immer ein Kontrolleur vorbei.  Als der Kontrolleur kommt, grinsen sie schadenfroh, aber die Ingenieure stehen gelassen auf, verschwinden in der nächsten Toilette und reichen dem Kontrolleur die eine Fahrkarte auf Klopfen unter der Tür durch. Clever, denken die Manager, und kaufen bei der Rückfahrt nur eine Karte, sehen dann aber verwundert, dass die Ingenieure gar keine Karte kaufen. Als der Kontrolleur kommt, stehen sie auf, zeigen den Ingenieuren grinsend ihre Karte und gehen auf die nächste Toilette. Die Ingenieure gehen hinterher, klopfen an die Tür, lassen sich die Karte reichen und verschwinden auf der nächsten Toilette. Merke: Man muss nicht nur das Verfahren kennen, sondern auch die Prinzipien dahinter!  

Organisationen, die sich nicht mehr selber, mit ihren eigenen Mitarbeitern, mit den Möglichkeiten zur Verbesserung, den Notwendigkeiten zur Veränderung etc. auseinandersetzen, sondern dies aus Bequemlichkeit immer nach außen vergeben, werden irgendwann die geistige Fähigkeit, dies zu tun, verlieren. Das Gehirn, ob ihr eigenes oder das einer Organisation, ist ein Muskel, der trainiert sein will. Eine Organisation, die ihr eigenes Gehirn nichts systematisch trainiert, wird irgendwann, wie wir es von mancher Behörde sehen können, seine Fähigkeit zur Weiterentwicklung und Veränderung, zur Steuerung in die Zukunft verlieren. In der freien Wirtschaft nennt man dies dann Übernahmekandidaten.

Fragen, Feedback und Kommentare zu diesem Beitrag senden Sie bitte an r.janssen@acent.de

Rainer Janßen | 12.05.2023

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