Management – Anregungen zum Nachdenken und Diskutieren

Serie: Management – Anregungen zum Nachdenken und Diskutieren

Teil 22: Zeit für Strategie

Henderson, der Gründer von Boston Consulting Group, hat 1970 die berühmte und immer noch verwendete zweidimensionale BCG-Matrix erfunden. Eine Dimension ist der relative Marktanteil und die andere das Marktwachstum. So werden meine Produkte – und die der Konkurrenz – im Wesentlichen in vier Kategorien eingeteilt: Cashcows, Dogs, Stars und Question Marks.

Zwar ist unsere Welt selten zweidimensional, aber es hat sich in den letzten 50 Jahren eingebürgert, solche zweidimensionalen Vierkästchenbilder zu verwenden, weil dies wohl eine von den Entscheidern in der Wirtschaft und Politik noch beherrschbare mathematische Komplexität ist. Zeichnen Sie also mal ein Bild mit zwei Achsen. Nach rechts geht dringend (wenig, sehr) und nach oben wichtig (wenig, sehr). Nun schreiben Sie mal typische Aufgaben Ihrer Organisation in die vier Quadranten und fragen sich dann: Worum kümmern Sie sich?

Natürlich um die sehr dringenden und sehr wichtigen Aufgaben zuerst, sagen Sie wahrscheinlich. Und dann? „Dringend/unwichtig“ oder „nicht dringend/wichtig“?

Selbst bei sehr dringenden und sehr wichtigen Aufgaben sollte man sich mal überlegen, ob man wirklich zur Problemlösung beitragen kann und dabei sein muss. Wenn etwa der E-Mail-Service in meinem Unternehmen nicht funktionierte, war das sowohl dringend als auch wichtig, aber ob der oberste Chef der IT zur Lösung des Problems beitragen kann, ist doch oft fraglich. Natürlich muss er Sorge tragen, dass die richtigen Menschen bei der Arbeit sind, muss überprüfen, ob die Kommunikation ins Unternehmen läuft und dem Krisenteam den Rücken freihalten. Meine Anwesenheit in den Krisensitzungen würde die Fachleute aber eher nervös machen, ablenken oder von offener kritischer Diskussion abhalten. Natürlich muss ich verfügbar sein, aber es ist nicht wirklich mein Job, das Problem zu lösen.

Und bei den anderen beiden Kästchen? Da sehe ich meine lieben Kollegen leider viel zu oft bei allem, was dringend ist, und viel zu selten bei den Aufgaben, die wichtig, aber nicht dringend sind. Die Gründe dafür kann ich durchaus nachvollziehen. Bei den dringenden Problemen gibt es meist irgendjemanden, der immer wieder nachfragt und nervt. Die Probleme sind meist beherrschbar und in relativ endlicher Zeit fertig. Man hat also sehr oft ein Erfolgserlebnis.

Mit den Themen aus der Kategorie „nicht dringend/wichtig“ ist es anders. Es sind Themen, an denen man oft länger sitzt und arbeitet. Sie sind auch diffuser formuliert und frustrierender. Aber sie sind wichtig. Und sie sind oft auch Chef-Themen. Und am wichtigsten unter diesen oft vergessenen oder übersehenen Aufgaben ist die der Strategieentwicklung.

Strategie heißt dabei für mich die Entwicklung eines Zielbilds für die eigene Organisation und eines Weges dahin. Das ist deutlich mehr, als oft von Unternehmen als Strategie verkauft wird. Denn bei vielen Unternehmen besteht die Strategie im Wesentlichen aus dem Statement: Wir wollen wachsen, viel Geld verdienen und von unseren Kunden geliebt werden. Eine Strategie, wie ich sie verstehe, gibt ein klares Zielbild, es bewertet und priorisiert Handlungsalternativen und gibt allen zu jeder Zeit eine gemeinsame Orientierung.

Dass Strategie selten dringend ist, ist wohl leicht einsichtig. Strategie ist ein längerfristig wirkender Plan und wenn er nicht existiert hat, dann wird sein Fehlen im nächsten Jahr auch nicht unmittelbar in die Katastrophe führen. Aber warum ist die Erarbeitung einer Strategie wichtig?  

Wie wir im Abschnitt über die Exponentialkurve gelernt haben, wird unsere Welt immer schneller. Es ist deshalb wichtig, unsere Organisation in die Lage zu versetzen, in vielen Situationen schnell und auch ohne große Abstimmungen entscheiden zu können. Hierfür ist es unverzichtbar, dass jeder Teil der Organisation verstehen kann, ob seine Entscheidungen zum gewünschten Ziel führen, den erwarteten Rahmen nicht verlassen oder verändern. Bestimmte Bewertungen von bekannten Trends wurde schon vorab getroffen. Ich muss sie vielleicht noch einmal überprüfen, aber nicht jedes Mal bei null anfangen. Eine gute Strategie ist also die Basis für die notwendige Beschleunigung von unabhängig in einer großen Organisation getroffenen Entscheidungen und sichert die Konsistenz des Ergebnisses von unabhängigem Tun.

Die Entwicklung und Vermittlung einer klaren und ausreichend detaillierten Strategie ist für mich eine der zentralen Führungsaufgaben eines modernen Managers und gleichzeitig eines seiner wichtigsten Führungsinstrumente. Wenn wir wollen, dass unsere Mitarbeiter etwa in den neuen agilen Projektszenarien Entscheidungen für ihren Bereich treffen können, die möglicherweise weit über den eigenen direkten Zuständigkeitsbereich hinausgehen, dann brauchen sie eine klare Strategie. Denn sonst landen wir sehr schnell wieder beim Micromanagement der Chefs, beim Rückversichern in der Hierarchie vor Entscheidungen und allem anderen, was die großen hierarchischen Organisationen so nervtötend langsam und in der Folge für den engagierten Mitarbeiter so frustrierend macht.    

Strategie ist kein statisches Objekt. Es muss kontinuierlich überprüft und in seinen Annahmen validiert werden. Weil es zentrale Handlungsbasis für alle in der Organisation ist, ist dies natürlich in einem besonderen Maße Chefsache. Über die Strategie drücke ich meinen Führungswillen aus.

Leider sind viele Manager so sehr in dringende Tagesordnungspunkte verstrickt, auch in nicht wichtige, dass ihnen die Zeit für die wirkliche eigenständige Befassung mit Strategie fehlt. Sie haben vielleicht eine zentrale Strategieabteilung, machen mit denen vielleicht auch mal einen Workshop, um irgendeinen Entwurf abzusegnen.

Aber das ist keinesfalls ausreichend. Sie müssen sich Zeit verschaffen, regelmäßig an dem Thema zu arbeiten. Lernzeit, Nachdenkzeit, Gesprächszeit etc. Sie müssen sich mit neuen Trends und Technologien befassen, Sie müssen mit Ihren Topexperten reden, wo Annahmen nicht mehr stimmen und auch mal die Tür zu machen und nachdenken, vielleicht auch einmal auf eine Tagung gehen und hören, was Kollegen aus anderen Firmen so sagen. Es braucht eben da nicht nur Spezialisten, sondern auch die Erfahrung des Top-Managements, aber auch die Klarheit zur Aggressivität bei den Zielen, der Risikobereitschaft in der Wahl der Methoden usw. All dies kostet Zeit, ihre ganz persönliche Zeit, gerade als Top-Manager. Wenn Sie meinen, diese Arbeit an eine Zentralabteilung delegieren zu können, irren Sie sich. Sie kriegen dann nur wieder eines von den schön klingenden, hausweit konsensabgestimmten Hochglanzpapieren, die Sie selber nicht authentisch vermitteln können, weil es eben nicht Ihre Strategie ist. Sollte etwa das Thema Digitalisierung für Ihr Unternehmen wichtig sein, dann sollten Sie sich als Manager schon mal mit IT befassen – und das ist übrigens etwas anderes als die Features ihres nächsten Smart-Phones zu erlernen.

Wenn Sie also führen wollen, wirklich führen und nicht über Mikromanagement die Einzelentscheidungen im Leben der Mitarbeiter treffen, dann brauchen Sie eine Strategie, die Sie mitentwickelt haben und die Sie auch verstanden haben. Und dazu brauchen Sie Zeit.        

Vielleicht starten Sie deshalb zunächst mal mit einer gründlichen Analyse Ihres Kalenders, um festzustellen, wie oft Sie Ihre Zeit in dem Quadranten „unwichtig/dringend“ verschwenden. Dann identifizieren Sie die Themen aus der Kategorie wichtig, aber nicht dringend, denen Sie zu wenig Zeit widmen. Und dann verschieben Sie systematisch Ihr Zeitbudget. Dabei setzen Sie bitte das Thema Strategie an die erste Stelle.

Fragen, Feedback und Kommentare zu diesem Beitrag senden Sie bitte an r.janssen@acent.de

Rainer Janßen | 21.04.2023

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