IT-Architekt: Ein Oxymoron?!
Enterprise Architecture

IT-Architekt: Ein Oxymoron?!

Wenn Sie sich einmal den Spaß machen und auf einer IT-Konferenz oder Messe Visitenkarten sammeln, werden Sie feststellen, dass es ziemlich viele Manager in so einer IT-Organisation geben muss. Denn nicht nur Menschen, die einem kleineren oder größeren Teil der Aufbauorganisation einer IT-Abteilung in einem Unternehmen vorstehen und Personalverantwortung tragen, nennen sich Manager. Da gibt es dann noch die Service-Manager für die verschiedensten Services, Sourcing-Manager, Projektmanager und vieles andere mehr. Es muss ja alles gemanagt werden und irgendwie will anscheinend jeder Manager von irgendetwas sein, obwohl das Berufsbild im Grunde ein schlechtes Image hat.

Gleich danach kommen dann aber die Architekten. Auch die gibt es für nahezu alles, von der IT-Strategie über die Anwendungsarchitektur, für das Firmennetzwerk oder andere Teile der Infrastruktur, für die Geschäftsarchitektur usw. Es gibt anscheinend wenig in der IT-Landschaft eines Unternehmens, das ohne die Begleitung durch einen IT-Architekten auskommt.

Der Begriff Architekt ist natürlich aus der wirklichen Welt der realen Bauwerke gestohlen. Dort wurde dieser erstmals 1923 in Italien gesetzlich geschützt. In Deutschland wacht die Architektenkammer darüber, wer sich Architekt nennen darf. Und nur wer von dieser akzeptiert wird und in der Regel ein entsprechendes Studium als Qualifikation nachweisen kann, wird in die deutsche Architektenliste eingetragen. Und nur wer in dieser Liste steht, darf bestimmte Projekte nach der Großen Bauvorlageberechtigung bei Behörden einreichen.

Bei IT-Architekten ist das anders. Da weiß man eigentlich nicht so genau, was diese ursprünglich gelernt haben und wo sie ihre Qualifikation erwarben. Da gibt es immer noch die vollkommene Freiheit, die wir ja auch im Internet immer noch so hochhalten. Ich hatte schon Theologen, Sinologen und Biologen sowie Menschen, die aus ganz anderen Berufen ihren Weg in die IT gefunden haben in meiner eigenen IT Organisation. Aber sollten sie ohne ein wirklich qualifiziertes, nachgewiesenes und qualifiziertes Studium Architekten eines IT-Großgebäudes sein dürfen? Am Türschild eines Mitarbeiters eines IT-Unternehmens las ich einmal „Staatlich geprüfter Mathematiker“ und das stimmte auch: Bei zwei seiner Prüfungen war ich dabei und er war beide Male durchgefallen! Verstehen Sie mich nicht falsch. Alle diese Menschen waren geschätzte Kollegen in ihren Organisationen, aber sollten wir angesichts der Bedeutung, der Sicherheitsaspekte und der Einsatzrisiken vieler großer IT-Infrastrukturen nicht endlich darauf achten, dass ein wirklicher Architekt mit einer wirklich qualitätsgesicherten Ausbildung die Verantwortung für das Design einer Applikation übernimmt!? Sie würden doch selbst die Statik ihres Einfamilienhauses nicht von im wesentlichen selbsternannten Architekten rechnen lassen, oder doch? Und selbst ein Zertifikat des führenden Betonlieferanten würde Ihnen kein Vertrauen einflößen?

Mit dieser zertifizierten Qualifikation des richtigen Architekten gehen dann noch andere Rechte einher, die dem IT-Architekten vollkommen fehlen. Wenn ein Architekt ein Gebäude baut, dann kann man hinterher nicht einfach alles damit machen, was man will. Die Architektur muss beibehalten werden oder darf nur mit Genehmigung des Architekten geändert werden. Das Münchener Olympiastadion wurde deshalb nicht zu einem Fußballstadion umgebaut, weil der Architekt das Konzept für „nicht mit seiner Architektur vereinbar“ hielt.

Wenn ein IT-Architekt eine Anwendung baut, sieht es doch oft ganz anders aus. Wenn unser Kunde zunächst einen Sportwagen bestellt, bauen wir den. Wenn er dann nachher eine Anhängerkupplung fordert und danach noch einen Abschleppkran, maulen wir zwar, aber wir liefern es. Und auch bei der Durchsetzung anderer Konzepte wie Sicherheit, Datenschutz, Stabilität sind wir oft beliebig machtlos. Anders als der wirkliche Architekt sind wir meist zahnlose Tiger, wenn wir die Einhaltung einer Architektur fordern wollen.

Nach meinem Eindruck reden wir zwar seit Jahrzehnten davon, dass sich etwas ändern muss. Als in den 60er Jahren die erste Softwarekrise ausgerufen wurde, haben die Gründungsväter der Informatik in einer legendären Konferenz in Garmisch den Begriff Softwareengineering geprägt. Man hat viel darüber geredet, auch vieles an Technologie entwickelt und immer wieder bei Ingenieuren und Architekten Konzepte abgekupfert – wie die 1978 von Christopher Alexander vorgestellte Pattern Language für Towns, Buildings, Construction – aber man war nie bereit, die aus meiner Sicht notwendigen berufsständischen Konsequenzen zu ziehen.

In Versicherungen gibt es zu Recht zum Schutze des Verbrauchers den Aktuar. Dieser hat eine durch die Aktuarsvereinigung abgesicherte, qualifizierte Ausbildung. Die Bundesaufsichtsbehörde BaFin muss vor seiner Ernennung dessen Qualifikation prüfen und zustimmen. Der Aktuar soll an den Vorstand berichten, er darf nur mit Zustimmung des Aufsichtsrates entlassen werden. All dies soll verhindern, dass die Versicherung Produkte ersinnt, die etwa finanztechnisch nicht stabil sind und damit die vorgetäuschte Sicherheit gar nicht bieten. Würde einem Softwareunternehmen eine vergleichbare Position nicht auch gut zu Gesicht stehen? Dann hätte man bei massiven Performance-, Stabilitäts-, Funktionalitäts-, Sicherheits- oder Datenschutzproblemen einer neuen Software vielleicht auch mal einen Verantwortlichen? So wie man sich beim Dacheinbruch unter Schneelast auch vor Gericht an den Architekten wendet? Würde ein solcher, auch rechtlich verantwortlicher Architekt nicht mit mehr Kraft eine saubere Architektur durchsetzen?

Ich denke, es wäre gut, wenn wir uns hier langsam anderen Berufsständen annähern würden, die strengere Zugangsregularien für Schlüsselfunktionen schaffen. Es scheint aber, dass die Angst vor Regulierung und Beschränkung der totalen Freiheit uns davon abhält. So wie die IT Branche jedenfalls jetzt mit dem Thema umgeht, sind IT und Architektur ein Widerspruch in sich, eben ein Oxymoron.

Fragen, Feedback und Kommentare zu diesem Beitrag senden Sie bitte an r.janssen@acent.de

Rainer Janßen | 19.08.2020

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